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1. November 2020
Predigt: Meine Zeit steht in deinen Händen (Ps 31,16)
Es ist eine besondere Zeit, in der wir leben: Die Corona-Pandemie stellt uns immer wieder vor neue Herausforderungen. Gerade in dieser dunklen Jahreszeit, im November mit seinen Gedenktagen an die Verstorbenen, sollen wir uns wieder möglichst isolieren, unsere Kontakte auf ein Minimum zurückfahren. Das bedeutet für einige Menschen Vereinsamung, das Telefon als Draht zur Außenwelt kann persönliche Kontakte und Begegnungen nur teilweise ersetzen. Das bedeutet für einige Menschen, dass die Sorge zu erkranken, für andere werden Existenzsorgen größer.
So eine Zeit mit so vielen Einschränkungen habe ich wie so viele andere noch nicht erlebt. Und ich spüre, dass wir als Gesellschaft unsicher sind, wie wir diese Krise bewältigen können. Und anstatt zusammen zu halten und uns gegenseitig zu unterstützen, nehmen Verschwörungstheorien und Diskussionen um den Sinn oder Unsinn der Maßnahmen zur Bewältigung dieser Pandemie zu und verunsichern uns zusätzlich.
Es ist eine besondere Zeit, in der wir leben: vor genau einem Jahr war ich mit Jugendlichen auf einer dreitägigen Freizeit, auf der wir mit dem Klimawandel beschäftigt habe. Zu der Zeit war die „Fridays for future“-Bewegung in aller Munde. In diesen Gesprächen auf der Jugendfreizeit habe ich erst richtig verstanden, dass die Jugendlichen den Klimawandel wirklich als Bedrohung für ihre Zukunft verstehen, sie wirkliche Existenzangst haben, wenn wir es nicht schaffen, unser Verhalten so zu verändern, dass der Klimawandel signifikant verlangsamt und/ oder gestoppt werden kann. Als Mutter und Pastorin tat es mir in der Seele weh, zu spüren, wie sehr die Jugend dieser heranwachsenden Kinder durch den Klimawandel und die damit verbundenen Perspektiven belastet ist. Und ich fühlte mich wie so viele andere hilflos, da ich mich bemühe, meinen CO2-Fußabdruck so klein und mein Leben so nachhaltig wie möglich zu gestalten, und doch immer wieder an mir selbst, aber auch an den Umständen scheitere.
Es ist eine besondere Zeit, in der wir leben: vor fünf Jahren stellte eine enorme Flüchtlingswelle die Menschen in Europa vor große Herausforderungen. Die Flüchtlingszahlen stiegen dramatisch, über die Balkanroute drängten immer mehr Menschen nach. Das „Wir schaffen das“ der Kanzlerin hat noch jede und jeder im Ohr. Gelungen ist das nur bedingt. Eine Welle der Solidarität ging durchs Land, sehr viele Menschen engagierten sich in der Flüchtlingshilfe, oft nicht nur für ein paar Wochen, sondern für Monate oder sogar Jahre. Aber ziemlich schnell wurde auch klar, dass Merkels Satz polarisiert. Ein Teil der Bevölkerung fühlte sich überfordert und vernachlässigt, diese Stimmung nutzte die AfD, um die Unzufriedenen hinter sich zu sammeln und die Flüchtlinge um die Angst vor Überfremdung zu schüren. Bis heute spüren wir den Rechtsruck der Gesellschaft, der bei mir oft Unwohlsein bis hin zu einer diffusen Angst hervorruft.
Wir leben in einer besonderen Zeit. Manchmal spüre ich, wie mich die Zeit mitreißt und Zukunftsängste mich wie einen Strudel umspülen und mir die Orientierung nehmen. Dann fühle ich mich wie dieses kleine Boot, das Chagall in den Fluss der Zeit malte. (Marc Chagall: Die Zeit ist ein Fluss ohne Ufer) Können Sie es erkennen? Dort unten links im Bild. Zuerst habe ich es durch die vielen anderen Elemente des Bildes gar nicht wahrgenommen. Aber seit ich es durch die Gespräche bei der Vorbereitung entdeckt habe, lässt es mich nicht mehr los.
Der Mensch in dem Schiff treibt im Fluss der Zeit: der Fluss ist so weit, so breit, so schnell, dass der Mensch gar keine Chance hat, das Ufer zu erlangen. In schneller Folge wechseln die Landschaften und Gegenstände am Ufer. So ähnlich empfinde ich auch unser Leben: die Ereignisse, wie die Flüchtlingswelle, der Klimawandel, die Corona-Pandemie, die unser Leben grundlegend verändern und unsere bisherige Lebensweise in Frage stellen, all diese Ereignisse kommen in so schnellem Rhythmus, dass es mir fast unmöglich wird, mich darauf einzustellen. Ich werde durcheinander gewirbelt von einer Fülle an Informationen und Meinungen.
Und die Menschen reagieren unterschiedlich auf diese Unsicherheit: manche suchen nach einfachen Erklärungsmodellen, finden sie in Verschwörungstheorien oder populistischen Meinungen. Manche Menschen ignorieren das Offensichtliche, versuchen ihr Leben sozusagen ohne Veränderungen weiterzuleben. Andere werden zu Weltverbesserern, die jede und jeden in ihrem Umfeld bekehren wollen. Wieder andere ziehen sich zurück. Es gibt viele Möglichkeiten mit den Herausforderungen der heutigen Zeit umzugehen …
In meinem Suchen und Fragen nach Sicherheit und Standpunkten höre ich den Psalmbeter: „Ich aber, HERR, hoffe auf dich und spreche: Du bist mein Gott! Meine Zeit steht in deinen Händen.“ Meine Zeit in deinen Händen – ein Bild, das ich bei Bestattungen oft verwende. Gott, der schon vor mir, von Anbeginn der Welt da ist und der auch da sein wird, wenn wir schon längst vergangen sind. Gott birgt meine Zeit, mein Leben, mich in seinen Händen. Es ist ein Bild, das meiner Seele gut tut, weil es Geborgenheit und Ruhe ausstrahlt. Aufgehoben in Gottes Hand – von Ewigkeit zu Ewigkeit. Diese Konstante Gott setzt den Gegenpol zur den immer schneller werdenden Veränderungen meines Lebens im Jetzt und Hier. In Gottes Hand geborgen – das heißt nicht, dass Leben immer nur positiv verläuft. Das hat Chagall erfahren müssen, der das Bild 1939 unter dem Eindruck der Judenverfolgung durch die Nazis malte und später in die USA emigrierte, um sein Leben zu schützen. Und auch wir wissen: Zum Leben gehören Schmerz, Unsicherheit und Leid genauso wie Freude, Sicherheit und Heil. Und in allem bin ich geborgen und begleitet von Gott.
Meine Zeit steht in Gottes Händen, ein Bild, das mich begleitet und trägt, ein Bild, das mir auch Kraft geben kann. Gott als das Kontinuum meines Lebens, als Gegenpol zu aller Veränderung und Verunsicherung. Denn Gott hat sich den Menschen immer als einer gezeigt, der in den Veränderungen da ist und mitgeht. Ob auf dem Weg in ein neues Land, bei der Errichtung eines Staates, in allen politischen Veränderungen ist Gott da für die Menschen, die an ihn glauben und ihm vertrauen.
Meine Zeit steht in deinen Händen, das heißt für mich: in aller Verunsicherung und Veränderung ist Gott gegenwärtig, ich muss nicht alleine und verunsichert in die Zukunft schauen. Gott ist ein verlässlicher Partner, gibt und Kraft und Mut, uns den Herausforderungen der Gegenwart zu stellen. Und er gibt uns Hoffnung und Richtschnur: Rücksicht auf die Schwachen zu nehmen, hat Jesus verkündigt und vorgelebt und so sollen wir es auch tun heute, nämlich nicht die Alten und Schwachen wegsperren, sondern uns solidarisch gegen die Verbreitung des Corona-Virus stemmen. Diese Welt hat Gott uns Menschen gegeben, dass wir sie schützen und erhalten und nicht durch unser unbedachtes und schädliches Tun nachhaltig zerstören. Nächstenliebe fordert Gott von uns und zu unseren Nächsten zählen nicht nur unsere Nachbarn, sondern ebenso die Flüchtlinge. Und so sollten wir uns immer wieder für ein Leben entscheiden, dass nicht auf der Ausbeutung anderer aufgebaut ist. Wie das alles gehen kann, ist oft noch unklar, aber sicher ist: wir müssen neue Wege gehen, die wir nicht kennen.
Wir leben in einer herausfordernden Zeit, die viel Veränderung von uns fordert und uns Unsicherheit zumutet. Doch wir können vertrauen, dass Gott uns allem, was uns erwartet, bei uns ist, uns stärkt und uns immer wieder vergibt, wenn wir scheitern. Denn meine Zeit steht in deinen Händen, Gott!
Ich wünsche Ihnen alles Gute und Gottes Segen,
Ihre Pastorin Ulrike Kobbe