Lesepredigt am 2. Advent, 06. Dezember 2020
Predigttext: Jakobus 5, 7.8
„So seid nun geduldig, liebe Geschwister, bis zum Kommen des Herrn. Siehe, der Bauer wartet auf die kostbare Frucht der Erde und ist dabei geduldig, bis sie empfange den Frühregen und Spätregen. Seid auch ihr geduldig und stärkt eure Herzen; denn das Kommen des Herrn ist nahe.“
Liebe Gemeinde,
Sind Sie geduldig? Können Sie geduldig warten?
Das „Warten-können“ ist uns abhanden gekommen. Wenn wir Menschen etwas kaufen möchten, dann bitte jetzt sofort. Man wünscht verkaufsoffene Sonntage, damit möglichst an jedem Tag eingekauft werden kann. Internethandel 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr. Einige Warenhäuser bieten einen Expresslieferservice an. Kunden können so die bestellte Ware schon am nächsten Tag bekommen. Der Handel experimentiert mit Drohnen, kleinen Flugkörpern, um die Zeitspanne von Kauf und Lieferung noch zu verkürzen.
Können Sie noch warten?
Genuss sofort und jederzeit. Erdbeeren werden im Dezember von anderen Kontinenten zu uns geflogen nur damit wir sie jederzeit essen können. Produkte werden in immer kürzeren Zyklen verändert und erneuert, oft auf Kosten der Qualität. Es gibt immer schneller immer neuere Automodelle, wo die Technik manchmal noch gar nicht ausgereift ist. Später müssen die PKWs dann wieder in die Werkstätten zurückgerufen werden, um die Fehler zu beseitigen.
Können Sie noch warten?
Wir packen unser Leben voll, als wenn wir alles in den 70 oder 80 Lebensjahren erleben müssten. Und fühlen uns trotz aller Fülle eigenartig leer. Alles erleben. Das geht doch gar nicht. Ich muss auswählen und entscheiden. Jedes „Ja“ bedeutet an anderer Stelle ein „Nein“. Wenn ich mich zum Beispiel für Kinder entscheide, dann sind andere Dinge nicht so ohne weiteres möglich. Wenn ich den einen besuche, kann ich in der Zeit nichts mit dem anderen tun.
Wir wollen möglichst alles, möglichst sofort: Leben auf der Überholspur. Der Buchhandel bietet zahlreiche Ratgeber an, die beschreiben, wie wir Zeit gewinnen durch Selbstoptimierung.
Man möchte so viel erleben, nur nichts verpassen im Leben, up to date sein.
In dem kleinen Büchlein „Wer wir waren“ vom verstorbenen Roger Willemsen, beschreibt Willemsen sehr treffend, wie die neuen technischen Möglichkeiten uns verändern.
Willemsen schreibt: „Wir wurden alles gleichzeitig, souveräner und ohnmächtiger, sicherer und instabiler, zielstrebiger und zerstreuter.“
Wir leben in einer Rasanz im Modus der Flüchtigkeit. Wir haben die Realität verloren und dafür viele Realitäten bekommen. Wir haben die Realität verloren und dafür viele Realitäten bekommen.
Es fehlt, so sagt Willemsen etwas, was man „Geistesgegenwart“ genannt hat.
Ich empfinde auch, dass wir zerstreute Menschen sind, zugepackt mit allen möglichen Dingen, immer in Bewegung, aber nicht bei uns selbst, nicht „zentriert“, nicht in einer sich von Gott getragen wissenden Ruhe; nicht – und ich meine das jetzt im christlichen Sinn – „Geistes-gegenwärtig“.
Können Sie geduldig warten?
Wir müssen jetzt warten! Denn dieses Jahr ist anders. Dieses Jahr ist geprägt von der Corona-Pandemie. Kein Besuch der Oper, des Theaters, des Kinos, des Konzerts. Kein Urlaub im Ausland und nur bedingt in Deutschland. Kein gemütliches Kaffeetrinken in großer Runde, kein Restaurantbesuch, kein Kegeln, kein Singen, kein Mannschaftssport, keine Gruppen und Kreise in der Kirchengemeinde. Das ist schon bitter!
Es fühlt sich so anders an, wenn das „Viele“ wegfällt. Wir sind viel mehr alleine oder treffen uns im ganz kleinen Kreis. Sind wir dabei einsam?
Die Freizeitwohlstandsgesellschaft stockt. Wir stehen nicht mehr vor der Frage, ob wir noch warten können. Es bleibt uns nichts anderes übrig. Wir müssen warten.
Auf den Impfstoff zum Beispiel. Auf den Sommer, wo die Zahlen wieder wetterbedingt sinken werden. Das erfordert Geduld.
Wir werden gezwungen zu warten. Wir werden gezwungen auf uns zu schauen. Manch einer erlebt in diesen Monaten, wie sich das, was er oder sie vorher für wichtig hielt durch die Pandemie verschoben hat: Beziehungen werden auf einmal wichtiger. Telefonate werden wichtiger. Freunde werden wichtiger. Familie wird wichtiger. Briefe werden wichtiger.
So furchtbar die Corona-Pandemie auch ist, so hat sie uns auch etwas Positives gebracht: Sie zwingt uns endlich einmal dazu, darüber neu nachzudenken, was uns im Leben trägt und hält und nährt und weiterführt.
„Warten“ und „Geduld“, dazu ruft uns der Schreiber des Jakobusbriefs auf. Damals um 100 nach Christus da fragten sich die Menschen: Wann kommt Jesus Christus endlich wieder. Sie lebten in schwierigen Zeiten. Sie litten unter der Verfolgung durch die Römer. Die schmerzvolle Trennung vom Judentum lag hinter ihnen. Wann kommt der Herr wieder und bringt alles zurecht?
„Habt Geduld“, antwortet der Schreiber des Jakobusbriefs. „Wartet. Er wird kommen.“ Jesus kommt wieder! Diese Botschaft ist nun fast 2000 Jahre alt. Wenn ich Sie fragen würde, ob Sie mit der Wiederkunft Jesu in ihrem Leben rechnen, dann werden viele sagen: Es könnte sein, dass er jetzt wiederkommt, aber eigentlich rechne ich nicht damit.
Eine formuliert es so: In dem Moment, wenn ich sterbe begegne ich dem dreieinigen Gott. Dann ist sozusagen der Tag des Herrn da. Und da ich nicht weiß, wann ich einmal sterbe, kann das auch sehr unvermittelt kommen. Aber wir rechnen nicht mit Jesu Wiederkunft zu unseren Lebzeiten. Ich auch nicht.
Was wir mit den Menschen damals gemeinsam haben ist das Vertrauen, dass Gott selbst den Schlusspunkt für diese Welt und für uns setzen wird. Wir Menschen sind durch Jesus Christus Kinder Gottes. Das gilt schon jetzt. Und wir glauben, dass Gott die Welt vollenden wird. Ob das zu unseren Lebzeiten oder in seiner Ewigkeit sein wird, das wissen wir nicht. Wir sind aber gewiss, dass die Beziehung zu Gott auch nicht mit dem Tod endet. Dafür steht Jesus Christus, der geboren, gekreuzigt und auferstanden ist. Das ist schon geschehen. Er bezeugt uns die Liebe Gottes.
Wenn wir zu Gott gehören, dann können wir im Sinne Gottes in der Welt wirken. Wir sollen nicht die Hände in den Schoß legen, nach dem Motto: Gott wird’s schon richten. Stattdessen sollen wir uns in unseren Möglichkeiten für diese Welt einsetzen, für Menschen, die unseren Beistand benötigen, für Recht und Gerechtigkeit, für Frieden, für die Schöpfung, die wir später unseren Kindern überlassen. Das ist aktives Tun. Wir sollen so handel, als wenn alles
von uns abhinge. Andererseits wissen wir: Gott wird alles richten, zu Recht bringen. Er ist der Handelnde.
Der Schreiber des Jakobusbriefs verdeutlicht diesen Sachverhalt am Beispiel eines Bauern, der sein Land bestellt hat. Der Bauer weiß, worauf er wartet und was ihm verheißen ist. Zudem weiß er, dass das Wachsen und Reifen der Pflanzen Zeit braucht. Er kann nicht den Früh- und Spätregen machen. Und er kann auch nicht einfach den Wachstumsprozess beschleunigen. Das Wachsen ist Geschenk Gottes. Aber: Sein geduldiges Warten hat nur Sinn, wenn es dafür einen Grund gibt. Dem Warten muss unbedingt das Säen und Pflanzen vorausgehen. Der verantwortungsvolle Bauer selbst sät und pflanzt – das kann ihm Gott nicht abnehmen.
So wie der Bauer in diesem Bildwort, so können wir daran mitarbeiten, dass das Reich Gottes sich ereignet.
Ich, Mensch packe an, was zu verändern ist und akzeptiere, was nicht zu ändern ist. Vor allem aber lerne ich, das eine vom anderen zu unterscheiden. Wo Gottes Kommen zum Heil der Welt erwartet wird, hat der Tod keine Zukunft mehr. Da steht die unzerstörbare Gemeinschaft mit Gott und nicht der Tod als Ende aller Beziehungen. Der Glaube stiftet zur Gelassenheit an. Und wer solchermaßen gelassen ist, der hat auch weniger Angst – im Glauben und im Leben.
Können Sie geduldig warten? So habe ich die Predigt begonnen. Vielleicht führt uns die Corona-Pandemie in diesem Advent in die Stille. Geduld und Verlangsamung kann uns wieder dazu bringen statt auf die vielen Stimmen auf die eine Stimme Gottes zu hören. Vieles, was uns im Alltag als so wichtig erscheint, wird plötzlich nichtig und klein. Und Gott wird uns zeigen, was wesentlich ist im Leben und im Tun. Und er weist uns auf unseren Nächsten.
Dietrich Bonhoeffer schrieb: „Auf die größten, tiefsten, zartesten Dinge in der Welt müssen wir warten, da geht’s nicht im Sturm, sondern nach den göttlichen Gesetzen des Keimens und Wachsens und Werdens.“
Das könnte auch in Zeiten dieser Pandemie gelten.
Können Sie warten? Denn es braucht Geduld.
Amen.
Ernst Schmidt