Lesepredigt am 12.07.2020 - Bildbetrachtung

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen.
Amen
Ein Arm ist nach oben gerichtet. Es ist ein linker Arm. Er ist leicht angewinkelt, also noch nicht ausgestreckt, aber doch deutlich nach oben gerichtet. Der Oberarm trägt ein Kleidungsstück, der Unterarm ist unbekleidet. Die Hand am Ende des Armes formt etwas durch die Gestalt der Finger. Man kann alle Finger sehen, nichts an ihnen wirkt verkrampft. Die Form der Finger deutet an, dass gleich etwas in die Hand genommen werden könnte. Eine Stange vielleicht, oder eine Art Geländer, das sich oben befindet wie in einem Bus. Oder eine andere Hand, die von irgendwoher kommt.
Das auf den ersten Blick schlichte Bild ist auch ein großes Sinnbild. Wir kennen eine solche Haltung des Arms und der Hand. Es ist, gleichermaßen, ein Suchen und ein Erwarten. Man kann auf diese Weise nach etwas greifen oder von etwas ergriffen werden. Gute Bilder laden dazu ein, bei ihnen zu verweilen, sie länger zu betrachten und sich eine Geschichte hinter dem Bild zu erzählen.
Die Geschichte hinter der Geste, hinter dem Bild, können wir uns erzählen. Zunächst sollten wir überlegen, ob dieser Arm und die Hand nach etwas greifen wollen –oder ergriffen werden wollen. Welche Erwartung liegt in der Geste? Will ich etwas haben, was ich jetzt brauche – oder erwarte ich etwas, was jetzt gleich zu mir kommt? Bin ich mit dieser Geste eher der oder die Handelnde – oder komme ich dem Handeln eines oder einer anderen entgegen? Will ich greifen – oder ergriffen werden?
Im Ergebnis bleibt beides gleich; nur meine Einstellung ist eine andere. Richte ich mich aus? Oder antworte ich auf etwas, was mir entgegengehalten wird?
Diese Fragen mögen etwas umständlich klingen. Sie sind aber hilfreich, damit uns klar wird: Etwas will gefunden werden. Jeder Mensch will gefunden werden. Im Gefunden-Werden liegt Beachtung. Und um gefunden zu werden, kann man entweder abwarten oder sich auf die Suche machen nach jemandem, der mich finden soll. Man kann entdeckt werden – plötzlich, wie zufällig; man kann aber ein Entdeckt-Werden auch gründlich vorbereiten, indem man auf sich aufmerksam macht.
Beides ist möglich, nichts davon ist verkehrt oder gar falsch. Weil wir das zum Leben brauchen wie Atmen, Essen und Trinken: Wir wollen beachtet sein. Beachtet sein gibt Bedeutung. Und Bedeutung zu haben ist Teil des Lebenssinns.
Das Schlimmste, was dem einen Sohn im Gleichnis vom „verlorenen“ Sohn widerfährt, ist weniger sein armseliges Leben im Stall neben den Trögen für die Schweine. Das Schlimmste, was er da empfindet, ist sein Unbeachtet-Sein, sein Herausgefallen-Sein aus aller Welt. Niemand sieht ihn dort, niemand achtet auf ihn, er ist ein durch und durch Unbedeutender – noch nicht einmal die Schweine brauchen ihn ja, nur er braucht sie beziehungsweise ihre Nahrung. So muss er empfinden. Zugleich empfindet er natürlich, dass er diesen Zustand selbst verschuldet hat. Seine Eigenwilligkeit, sein Aufbegehren gegen das Leben daheim hat ihn in diese Lage gebracht. Er ist, wie man so sagt, „verraten und verkauft“. Er empfindet sich als so tief unten, dass er das Schwerste überhaupt beginnt: eine Art Selbstdemütigung, nämlich den Rückweg dahin, wo er einst unbedingt weg wollte, wo er aber wenigstens beachtet wurde. Und wieder beachtet werden wird. Wie sehr er daheim dann wirklich geehrt wird, konnte er nicht erwarten, wohl noch nicht einmal erhoffen.
Leben ist nur Leben, wenn es beachtet wird. Darum haben es heute so viele nötig, wie sie selbst meinen, auf sich aufmerksam zu machen mit Lautstärke oder anderem schrillen Auftreten. Es gibt bei Menschen eine große Furcht, nicht wahrgenommen zu werden, unbeachtet zu bleiben, also vergeblich zu leben. Und bevor man sich aufgibt, sucht und versucht man vieles, um die Furcht vor der Unbedeutendheit zu beenden; und tritt so auf, dass man bemerkt und beachtet wird. Wer, wie auf dem Bild, seinen Arm hebt und – auf welche Weise auch immer – auf sich aufmerksam macht, zeigt sich und hofft darauf, dass jemand den Arm oder die Hand ergreift.
In diesen von Corona geprägten Zeiten ist das ja leider nicht möglich. Die Hand ergreifen, das Umarmen ist nur für die erlaubt, die in einem gemeinsamen Haushalt leben. Was ist mir denen, die alleine sind, die ihre sozialen Kontakte per Telefon oder auf Distanz pflegen. Ist es da nicht umso wichtiger, dass wir durch ein Lächeln, ein freundliches Wort unseren Mitmenschen die Beachtung schenken, die so nötig ist? Auch Gesten können in dieser so eigenartigen Zeit sehr klar machen, dass wir unser Gegenüber mit Freude wahrnehmen. Die in Asien übliche Geste zur Begrüßung, die nach oben gerichteten gefalteten Hände vor der Brust setzt sich auch bei uns immer mehr durch.
Oder die gekreuzten Arme vor der Brust mit den auf die Schulter gelegten Händen sollen eine Umarmung symbolisieren. Wir alle brauchen solche Zeichen der liebevollen Beachtung und Zuwendung.
Leben heißt beachtet sein. Und auf andere achten. Ich kann jemand sein, der andere sieht. Ich kann Arme und Hände, die sich mir entgegenbeugen oder -strecken, ergreifen, zur Zeit im übertragenen Sinn. Ich kann, manchmal, jemand sein, der für einen kleinen Augenblick ein winziger Teil vom Reich Gottes wird. Ich schenke Beachtung; und für einen winzigen Moment schenke ich Lebenssinn. Einem oder einer anderen – zugleich aber auch mir selbst.
Wer auf andere achtet, wird beachtet.
In der Zuwendung zu anderen werden sich Menschen ihrer selbst gewiss.
Amen
Und der Friede Gottes, der größer ist als all unser Verstehen bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus.
Amen