Lesepredigt zum Mitnehmen
3. Sonntag nach Trinitatis, 20. Juni 2021
Gottes unerschöpfliche Gnade und die Vergebung der Sünden

Liebe Gemeinde,
der Predigttext für diesen Sonntag bringt eine Herzensangelegenheit von mir zur Sprache: Gottes Gnade und die damit verbundene Sündenvergebung. Also ein wirklich reformatorisches Anliegen. Denn obwohl Luther den gnädigen Gott predigte und die Kirche bzw. ihr Bodenpersonal aus der Verantwortung nahm, den Menschen die Sünden zu erlassen, empfinde ich als Pastorin und Seelsorgerin die Vergebung als einen der schwierigeren Punkte im evangelischen Glauben. Oft ist es für Christ*innen schwierig, erst sich die eigene Schuld einzugestehen, sie zu bereuen und sie dann wirklich hinter sich zu lassen.
Doch lesen wir erst einmal den Predigttext für den heutigen Sonntag, den Anfang des ersten Timotheusbriefs (1. Tim 1,12-17):
„Ich bin voll Dank gegenüber Jesus Christus, unserem Herrn, der mir für meinen Auftrag die Kraft gegeben hat. Denn er hat mich für vertrauenswürdig erachtet und in seinen Dienst genommen, obwohl ich ihn doch früher beschimpft, verfolgt und verhöhnt habe. Aber er hat mit mir Erbarmen gehabt, weil ich nicht wusste, was ich tat. Ich kannte ihn ja noch nicht. Er, unser Herr, hat mir seine Gnade im Überfluss geschenkt und mit ihr den Glauben und die Liebe, die aus der Verbindung mit ihm erwachsen. Es ist ein wahres Wort und verdient volles Vertrauen: Jesus Christus ist in die Welt gekommen, um die Sünder zu retten. Unter ihnen bin ich selbst der schlimmste. Deshalb hatte er gerade mit mir Erbarmen und wollte an mir als Erstem seine ganze Geduld zeigen. Er wollte mit mir ein Beispiel aufstellen, was für Menschen künftig durch den Glauben – das Vertrauen auf ihn – zum ewigen Leben kommen können. Gott, dem ewigen König, dem unsterblichen, unsichtbaren und einzigen Gott, gehört die Ehre und Herrlichkeit für alle Ewigkeit! Amen.“
Der Schreiber des Briefes stellt Paulus als hervorragendes Beispiel für einen Christen dar und das nicht, weil er so treu glaubt und sich so sehr für die Verbreitung der guten Botschaft von Jesus Christus engagiert, sondern weil Paulus als Verfolger der ersten christlichen Gemeinden und später als Apostel der christlichen Gemeinschaft ein Beispiel für Gottes unbegrenzte Gnade und Vergebung der Sünden ist. Denn wenn Gott einem Mann vergeben und ihm einen Neuanfang ermöglichen kann, der die Christinnen und Christen verfolgte und ihre Botschaft verhöhnt und Gott beschimpft hatte, wie viel mehr kann er uns unsere Sünden verzeihen – so die Argumentation des Briefeschreibers.
Von Gottes unermesslicher Gnade künden viele Geschichten in der Bibel, auch das in der Lesung gehörte Gleichnis vom verlorenen Sohn. Immer wieder ist Gottes Gnade und Barmherzigkeit nötig, weil die Menschen sich in ihren Sünden verstricken und darin gefangen sind.
Und damit kommen wir zu der spannenden Frage: Was ist Sünde? Die Bibel redet da nicht von kleinen Abweichungen von der Diät oder Knöllchen wegen falschem Parken. In unserem heutigen Sprachgebrauch wird die Sünde verharmlost und bagatellisiert. Nein, es geht beim Sündigen um eine geistige Haltung, die der Gemeinschaft mit Gott und den Menschen abträglich ist: es ist eine Abwendung von Gott, von den Menschen und von sich selbst.
Sünde gehört zum Wesen von uns Menschen: wir können nicht leben, ohne uns schuldig zu machen – in der ein oder anderen Hinsicht. Unser Wohlstand in der westlichen Welt basiert auf der Ausbeutung von Menschen in den anderen Teilen der Welt – eine Schuld, die wir auf uns geladen haben, ohne es zu wollen und vielleicht sogar ohne es zu wissen. Aber trotzdem sind wir schuldig geworden. Zum Menschsein gehört die Sünde, sich von Gott abzuwenden, immer mal wieder, weil die Zweifel zu groß werden oder weil ich in meinem Leben mit meinen Erfolgen und Niederlagen Gott aus dem Blick verliere. Zum menschlichen Leben gehört die Sünde, Menschen zu verletzen: schnell sind im Streit Worte gesagt, die den anderen tief verletzen und die man dann leider nicht mehr zurücknehmen kann.
Zum Menschsein gehört die Sünde - egal, wie sehr wir uns darum bemühen, alles gut und richtig zu machen. Und an dieser Stelle kommt die göttliche Vergebung ins Spiel. Denn Gott kennt uns, die Menschen, unser Leben. Und er sagt: wenn ihr eure Sünden aufrichtig bereut, dann vergebe ich euch und ihr könnt unbelastet von der Vergangenheit neu anfangen. Habt keine Sorge, meine Gnade ist unermesslich, mein Wille zur Vergebung unbegrenzt. Wie erleichternd für uns, dass Gott so gnädig ist.
Aber hier ist der Haken an der Vergebung: oft wissen wir ja ganz genau, was wir falsch gemacht haben. Und mir fällt es auch nicht schwer, Gott dafür um Vergebung zu bitten. Das tun wir in jedem Gottesdienst ganz zu Beginn nach dem Psalm, damit keine Schuld dem Hören auf das Wort Gottes im Weg stehen kann. Wenn ich mich schuldig fühle, bitte ich Gott um Vergebung – und ich weiß vom Kopf her, dass Gott gnädig ist und er mir vergibt - aber manchmal fühlt es sich einfach nicht so an, als wäre die Schuld vergeben, die Last der Vergangenheit abgelegt und ein neuer Anfang möglich.
Deswegen habe ich, als ich nach meiner Traumkirche gefragt wurde, gesagt, dass ich mir für meine Kirche eine Sündenabwaschanlage wünsche: vorne bekennt man seine Sünden, diese werden durch Vergebung abgewaschen und der neu gewordene Mensch bekommt die Zusage: „Lass das, was dich belastet, hinter dir. Fang neu an. Gott gibt dir diese Chance.“ Dann ist es vielleicht auch möglich, sich selbst zu verzeihen, denn oft sind wir selbst unsere strengsten Richter*innen. In meiner Kirche wird der Glaube an einen unglaublich gnädigen Gott nicht nur gepredigt, sondern erfahrbar.
Und diese spürbare Erfahrung der Vergebung bietet dieser Sonntag, allerdings nicht in einer Waschanlage, sondern in einer Umarmung. Denn dieser 3. Sonntag nach Trinitatis wird auch als „Sonntag der offenen Arme“ bezeichnet. Mit offenen Armen erwartet der Vater im
Gleichnis seinen verlorenen Sohn. Und bevor sich dieser vor ihm auf den Boden werfen und um Verzeihung bitten kann, zieht der Vater ihn in seine Umarmung. Denn er spürt: dem Sohn tut sein verletzendes Verhalten leid und er bereut seine Sünden. So ermöglicht ihm der Vater unerwartet und unverdient eine Möglichkeit, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und unbelastet einen neuen Anfang zu starten. In den offenen Armen findet fühlt sich der Sohn aufgehoben und verstanden, hier ist er angenommen, so wie er ist. Die geöffneten Arme des Vaters und die Bereitschaft zur Umarmung zeugen von seiner Liebe, Geborgenheit und Vergebung. So kann der Sohn seine Sünden hinter sich lassen und gemeinsam mit Vater und Bruder ein neues Leben beginnen.
Die offenen Arme zeugen von Gottes großer Barmherzigkeit, denn der Vater im Gleichnis ist natürlich ein Bild für Gott. Welch ein Geschenk macht uns Gott mit seinen weit geöffneten Armen. Gerade nach einer langen Zeit der Distanz durch die Corona-Pandemie berührt mich dieses Bild der offenen Arme besonders. Wenn wir die Arme zu einer Umarmung ausstrecken, dann treten wir dem anderen ungeschützt und frei gegenüber, wir öffnen uns füreinander. Nach einem Streit sich wieder in den Arm zu nehmen, zeugt von Versöhnung und Vergebung und lässt beides spürbar werden. Und das tut gut!
Gottes immer offene Arme für uns Menschen, die wir Vergebung brauchen und uneingeschränkt bekommen – sie sind ein unerwartetes und unverdientes Geschenk und sie machen es möglich, uns selbst und anderen zu verzeihen. Die Vergebung ist ein Geschenk, das wir erfahren können und weitergeben an die, die sich uns gegenüber schuldig gemacht haben. So wie es im Vaterunser heißt: Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.
So, liebe Gemeinde, nun liegt es an uns: schleppen wir unsere Sünden und Belastungen der Vergangenheit weiter mit uns herum und lassen sie unser Leben beschweren? Oder vertrauen wir darauf, dass Gott so unfassbar gnädig und barmherzig ist und mit offenen Armen wartet, dass wir uns in seine Umarmung begeben und die Vergebung unserer Sünden erfahren? Ich denke, meine Antwort auf diese Fragen kennen Sie.
Ich wünsche Ihnen alles Gute und Gottes Segen,
Ihre Pastorin Ulrike Kobbe